Ein Projekt am Frobenius-Institut an der Goethe-Universität untersucht informelle Spar- und Versicherungspraktiken in der äthiopischen Diaspora
Wie kommen Menschen ohne Besitz zu einem Kredit? Und wer hilft ihnen in einer finanziellen Notlage aus der Patsche? Äthiopier außerhalb ihrer Heimat haben einen Weg gefunden: Sie tun sich zusammen, um einander im Bedarfsfall unter die Arme zu greifen. Diese „informellen Spar- und Versicherungspraktiken“ untersucht ein neues DFG-Projekt am Frobenius-Institut an der Goethe-Universität.
FRANKFURT. „On
the saf(v)e side: Informelle Wirtschaftsvereinigungen und Zukunftsaspirationen
in der äthiopischen Diaspora“, so lautet der etwas sperrige Titel des Projekts,
das Dr. Sophia Thubauville am Frobenius-Institut an der Goethe-Universität
gemeinsam mit Dr. Elias Alemu der Universität Hawassa in Äthiopien leitet. Zum
Forschungsteam gehören außerdem Dr. des. Kim Glück, ebenfalls
Frobenius-Institut, Prof. Dr. Worku Nida der UCL Riverside, USA, und Debela
Gindola, Doktorand an der Universität Hawassa. Das Projekt nimmt Äthiopier in
der Diaspora in den Blick, also Menschen, die fern der Heimat versuchen, ein
Auskommen zu finden. Die größten Diasporagemeinden finden sich in den USA
(500.000 Menschen), in Israel (130.000 Menschen) und Südafrika (120.000
Menschen), diesen Gemeinschaften sind drei Teilprojekte gewidmet. Ein viertes
Teilprojekt nimmt die Situation in Äthiopien selbst in den Fokus.
Was aber versteht man unter „informellen
Wirtschaftsvereinigungen“? „Oft handelt es sich um Freundes- oder
Kollegenkreise, die sich zu ganz unterschiedlichen Sparzielen zusammenfinden“,
erklärt Sophia Thubauville. Diese Zusammenschlüsse gibt es weltweit in vielen
Kulturen, in Äthiopien gehören ihnen alle Ebenen der Gesellschaft an, vom
Schuhputzer bis zum erfolgreichen Geschäftsmann. Im Land selbst sei ein
häufiges Sparziel die Finanzierung der Auswanderung, in den USA dann sparten
die Menschen zum Beispiel, um sich ein Taxi kaufen zu können. Auf einen Kredit
von der Bank haben Migranten kaum eine Chance. Oft ergibt sich dann ein
gewisser Ketteneffekt: Wem die Auswanderung durch die Gruppe ermöglicht wurde,
der schickt Geld an die Zurückgebliebenen, sobald er es geschafft hat.
Besonders große Summen werden notwendig, wenn ein lieber Angehöriger stirbt.
Denn Trauerfeiern sind die größten und kostenaufwendigsten Feierlichkeiten von
Äthiopiern, sowohl in ihrer Heimat als auch in der Diaspora – meist verbunden
mit einer Rückführung des Verstorbenen in die Heimat. Das kann nur bezahlen,
wer zuvor Mitglied einer Versicherungsgemeinschaft geworden ist und regelmäßig
einbezahlt hat.
Für Sophia Thubauville ist diese Praxis ein zukunftsweisendes
Modell: „Hier tun sich Menschen zusammen, um sich gemeinsam für ein besseres
Morgen einzusetzen“, sagt sie. Es sei faszinierend, wie dieses auf Solidarität
beruhende System funktioniere, wie sich jeder auf diese Weise Träume erfüllen
kann. Zudem helfe es dabei, kulturelle Identität zu bewahren. Erste
Erkenntnisse hat eine Pilotstudie erbracht, die vor zwei Jahren in Israel und
den USA durchgeführt wurde. Das nun angelaufene Projekt soll Unterschiede und
Parallelen zwischen den Spar- und Versicherungsverbänden aufzeigen, die
verschiedenen Bestrebungen und Ideen hinter der Praxis analysieren und so einen
Beitrag zu einer „Ethnologie des guten Lebens“ und einer „Ethnologie der
Zukunft“ beitragen. Das Projekt läuft bis zum März 2024.
Bilder zum Download: http://www.uni-frankfurt.de/101010199
Bildtext:
Bild
1: Geschäfte im Viertel „Little Ethiopia“ in Los Angeles. (Foto: Thubauville)
Bild
2: Äthiopische Juden bei der Ankunft in Israel. (Foto: Thubauville)
Weitere Informationen
Dr.
Sophia Thubauville
Frobenius Institut für kulturanthropologische Forschung
an der Goethe-Universität
Telefon 49(0)69 798-33240
E-Mail thubauville@em.uni-frankfurt.de
Redaktion: Dr. Anke Sauter, Referentin für Wissenschaftskommunikation, Abteilung PR & Kommunikation, Telefon 069 798-13066, Fax 069 798-763-12531, sauter@pvw.uni-frankfurt.de