Loperamid könnte bei der Behandlung von Glioblastomen helfen
Forscher der Goethe-Universität Frankfurt hatten kürzlich in einem Artikel und einer Pressemitteilung über den Einfluss des Wirkstoffes Loperamid auf den Zelltod bei Hirntumorzellen berichtet. Es sind daraufhin an den Deutschen Hirntumorzentren zahlreiche Anfragen nach dem therapeutischen Einsatz von Loperamid bei Patienten mit Hirntumorerkrankungen eingegangen.
Es ist jedoch festzuhalten, dass die zugrundeliegende Forschungsarbeit lediglich auf Zellkulturmodellen basiert. Aus den Ergebnissen können auf keinen Fall Empfehlungen zur Behandlung des Menschen abgeleitet werden. Loperamid kann neben Darmträgheit vor allem bei höher dosiertem oder nicht bestimmungsgemäßem Gebrauch schwere und lebensbedrohliche Nebenwirkungen verursachen.
Die Autoren des Forschungsartikels und des Schwerpunkts Neuroonkologie des Universitären Centrums für Tumorerkrankungen (UCT) raten daher dringend von einem Einsatz von Loperamid bei Hirntumorpatienten (außerhalb der Indikation Durchfall) ab.
Prof. Dr. med. Christian Brandts
Direktor Universitäres Centrum für Tumorerkrankungen Frankfurt (UCT), Universitätsklinikum Frankfurt
Prof. Dr. med. Joachim Steinbach
Direktor des Dr. Senckenbergischen Instituts für Neuroonkologie, UCT, Universitätsklinikum Frankfurt
Sjoerd J. L. van Wijk, Ph.D.
Institut für Experimentelle Tumorforschung in der Pädiatrie, UCT, Universitätsklinikum Frankfurt
In der Zellkultur wirkt das gängige Durchfallmittel Loperamid gegen Glioblastomzellen. Ein Forschungsteam der Goethe-Universität Frankfurt hat jetzt den Wirkmechanismus des Mittels aufgeklärt und damit gezeigt, wie der Wirkstoff die Behandlung von Hirntumoren unterstützen könnte, die schwer zu therapieren sind.
FRANKFURT. Hinweise
darauf, dass das Durchfallmittel Loperamid in der Therapie von Hirntumoren
eingesetzt werden könnte, fand die Arbeitsgruppe um Dr. Sjoerd van Wijk vom
Institut für Experimentelle Tumorforschung in der Pädiatrie der
Goethe-Universität bereits vor zwei Jahren. Nun entschlüsselte sie den
Wirkmechanismus und eröffnet damit Optionen für neue Behandlungsstrategien.
Wenn Zellen sich selbst auffressen
Loperamid führt in bestimmten Tumorzellen zu einer Stressreaktion
im Endoplasmatischen Retikulum (ER), dem Zellorganell, das für wesentliche
Schritte der Proteinsynthese im Körper verantwortlich ist. Der Stress im ER
löst dessen Selbstverdau aus: Es vernichtet sich quasi selbst. Dieser als Autophagie
(„Selbstverdau“) bezeichnete Mechanismus ist auch im normalen Stoffwechsel manchmal
sinnvoll, um aus beschädigten oder überflüssigen Zellbestandteilen die
wertvollen Anteile zu recyceln und somit das Überleben der Zelle etwa bei
Nährstoffmangel zu sichern. Bestimmte Tumorzellen scheinen über Autophagie
jedoch so viel Material abzubauen, dass sie nicht mehr überlebensfähig sind.
„Unsere Experimente mit Zelllinien zeigen, dass Autophagie bei
Glioblastom-Hirntumoren die Behandlung unterstützen könnte“, so van Wijk. Das
Glioblastom ist eine sehr aggressive und meist tödliche Krebsform bei Kindern
und Erwachsenen, die schlecht auf Chemotherapeutika reagiert. Daher werden
dringend neue Therapieansätzen gesucht. Die Arbeitsgruppe um van Wijk identifizierte
jetzt einen wichtigen Faktor, der die ER-Stressreaktion mit dem Abbau des ER
(Retikulophagie) verbindet: Der „Aktivierende Transkriptions-Faktor“ ATF4 wird
sowohl bei ER-Stress als auch unter Loperamid-Einfluss vermehrt gebildet. Er
löst den Abbau der ER-Membranen und damit des ERs aus.
Durchfallmittel löst Zelltod in Glioblastomzellen aus
„Wenn wir umgekehrt ATF4 blockieren, sterben nach Zugabe von
Loperamid deutlich weniger Zellen einer Tumorzellkultur“, beschreibt van Wijk
die Kontrollergebnisse. Außerdem konnte die Arbeitsgruppe unter dem
Elektronenmikroskop die ER-Trümmer in Abbauzellen des Körpers nachweisen. „Der
ER-Abbau, also die Retikulophagie, trägt sichtbar zum Zelltod von
Glioblastom-Zellen bei“, so van Wijk. Zudem zeigte die Arbeitsgruppe, dass
Loperamid in einer weiteren Zelllinie (embryonalen Maus-Fibroblasten) nur
Autophagie, nicht jedoch den Zelltod auslöst. „Diese Autophagie ist in normalen
Zellen harmlos - auch für die Einnahme als Durchfallmittel, denn Loperamid
wirkt im Darm nur an besonderen Bindestellen und wird nicht wirklich
aufgenommen durch Darmzellen", erklärt der Forscher.
Wirkmechanismus auch für andere Krankheiten denkbar
Der Loperamid-induzierte Zelltod von Glioblastomzellen könnte
helfen, neue Therapieansätze für die Behandlung dieser schweren Krebserkrankung
zu entwickeln. „Unsere Erkenntnisse eröffnen aber auch neue spannende
Möglichkeiten für andere Krankheiten, bei denen der ER-Abbau gestört ist, etwa
Nervenzell- oder Demenz-Erkrankungen sowie weitere Tumorarten“, so van Wijk.
Bevor Loperamid allerdings tatsächlich bei der Behandlung von Glioblastomen
oder anderen Erkrankungen eingesetzt werden kann, ist noch einige Arbeit
notwendig. So muss beispielsweise untersucht werden, wie Loperamid ins Gehirn
transportiert werden und die Blut-Hirn-Schranke durchdringen kann. Hierfür
kommen möglicherweise Nanopartikel in Frage. Die Frankfurter Arbeitsgruppe will
nun weitere Retikulophagie-auslösende Substanzen identifizieren und
untersuchen, wie sich die Wirkung von Loperamid verstärken lässt.
Die Arbeitsgruppe um Sjoerd van Wijk wird durch die Frankfurter
Stiftung für krebskranke Kinder und den DFG-geförderten Sonderforschungsbereich
SFB1177 “Molekulare und funktionale Charakterisierung der selektiven
Autophagie" finanziell unterstützt. Die Arbeiten entstanden in Zusammenarbeit
mit Dr. Muriel Mari, Prof. Dr. Fulvio Reggiori (Universität von Groningen,
Niederlande) und Prof. Dr. Donat Kögel (Experimentelle Neurochirurgie,
Goethe-Universität Frankfurt).
Publikation: Svenja Zielke, Simon Kardo,
Laura Zein, Muriel Mari, Adriana Covarrubias-Pinto, Maximilian N. Kinzler, Nina
Meyer, Alexandra Stolz, Simone Fulda, Fulvio Reggiori, Donat Kögel und Sjoerd
van Wijk: ATF4 links ER stress with reticulophagy in glioblastoma cells.
Taylor & Francis Online https://doi.org/10.1080/15548627.2020.1827780
Bild zum
Download:
http://www.uni-frankfurt.de/95797718
Bildtext: In Zellen des Hirntumors Glioblastom löst das Durchfallmittel
Loperamid den Abbau des Endoplasmatischen Retikulums aus: Im Normalzustand ist
es in diesen Mikroskopie-Aufnahmen gelb gefärbt, den Abbauzustand leuchtet es
als rotes Signal (im Ausschnitt mit Pfeilen markiert). Balken linkes Bild: 20
Mikrometer, Balken rechtes Bild („Inset“): 5 Mikrometer. (Fotos: Svenja Zielke
et. al.)
Weitere
Informationen:
Dr. Sjoerd J. L. van Wijk PhD,
Institut
für Experimentelle Tumorforschung in der Pädiatrie
Goethe-Universität
Frankfurt
Tel.
+49 69 67866574
s.wijk@kinderkrebsstiftung-frankfurt.de
https://www.kinderkrebsstiftung-frankfurt.de/