Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preis 2020
Angriff oder Friedenspflicht? Diese Frage beantworten Immunzellen unzählige Male am Tag. Würden sie dabei regelmäßig falsch liegen, hätte dies ernsthafte Konsequenzen für unsere Gesundheit. Mit den von Shimon Sakaguchi entdeckten regulatorischen T-Zellen besitzt der Körper eine Friedenstruppe, die dem Immunsystem hilft, sicher zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Stärkt oder schwächt man diese Friedenstruppe, erhält das Immunsystem einen Kick oder einen Dämpfer. Beides kann therapeutisch relevant sein. Deshalb werden beide Konzepte klinisch geprüft.
FRANKFURT. Der
Japaner Shimon Sakaguchi erhält morgen den mit 120.000€ dotierten Paul Ehrlich-
und Ludwig Darmstaedter-Preis 2020. Der Festakt in der Paulskirche ist wegen der aktuellen Entwicklungen in
der Coronavirus-Pandemie allerdings abgesagt worden. Sakaguchi bekommt
die renommierte Auszeichnung für die Entdeckung der regulatorischen T-Zellen,
die das Potenzial haben, die neuen Helden der Medizin zu werden. Regulatorische
T-Zellen halten das Immunsystem im Gleichgewicht und sorgen dafür, dass es
weder Amok läuft noch unaufmerksam ist. „Ohne die von Sakaguchi entdeckten
regulatorischen T-Zellen wäre das Immunsystem nicht in der Lage, Fehler bei der
Unterscheidung von Freund und Feind mit dem gebotenen Nachdruck zu korrigieren“
begründet der Stiftungsrat der Paul Ehrlich-Stiftung seine Entscheidung zur
Preisvergabe. „Das Immunsystem braucht eine solche Kontrolle, weil Übereifer zu
Autoimmunerkrankungen wie Rheuma und Typ 1-Diabetes führt. Versagen gibt
Krebszellen die Gelegenheit, sich zu einem Tumor zusammenzurotten und
Metastasen zu bilden. Sakaguchis Entdeckung hat demnach eine hohe medizinische
Relevanz.“
Der diesjährige Paul Ehrlich- und
Ludwig Darmstaedter Preisträger war früh von der Existenz einer immunologischen
Friedenstruppe überzeugt. Da es keinen Marker gab, mit dem diese Zellen
identifiziert und isoliert werden konnten, machte er sich daran, ein solches
Merkmal zu suchen. Er fand es in Form eines Oberflächenproteins, das nur bei
den regulatorischen T-Zellen dauerhaft und in großer Menge vorhanden ist und
das als Andockpunkt für einen Angelhaken dienen kann. „Die Entdeckung dieses Markers machte
unmissverständlich deutlich, dass es die regulatorischen T-Zellen tatsächlich
gibt und dass man sie isolieren und näher charakterisieren kann“, sagt
Professor Thomas Boehm, Direktor
am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg und
Vorsitzender des Stiftungsrates. „Das hat dem Arbeitsgebiet einen enormen Schub
verliehen. Plötzlich interessierten sich viele Wissenschaftler für die
regulatorischen T-Zellen.“
Spätestens ab dem Zeitpunkt, als Sakaguchi
nachweisen konnte, dass das Protein Foxp3 der zentrale An/Aus-Schalter der
regulatorischen T-Zellen ist, war klar, dass diese Zellen auch medizinisch
relevant sind. Über Foxp3 fahren die regulatorischen T-Zellen ihr
Betriebssystem hoch. Andere Wissenschaftler hatten bereits gezeigt, dass
Patienten mit dem sehr seltenen, angeborenen IPEX-Syndrom kein Foxp3 bilden.
Diesen Patienten fehlt damit offensichtlich der Zugriff auf ihre immunologische
Friedenstruppe. Sie entwickeln schon bald nach der Geburt eine schwere
Autoimmunerkrankung, an der sie oft früh versterben.
Regulatorische T-Zellen kommen wegen ihrer
fundamentalen Bedeutung für das Immunsystem für die Behandlung verschiedenster
Erkrankungen in Betracht. Allerdings auf unterschiedliche Weise. Bei
Autoimmunerkrankungen wie Rheuma, Typ1-Diabetes und Multiple Sklerose muss ihre
Aktivität gestärkt werden, damit sie entschlossener gegen die unangemessenen
Attacken auf körpereigenes Gewebe vorgehen. Bei Krebs brauchen die
regulatorischen T-Zellen einen Dämpfer. Krebszellen sind zwar körpereigene
Zellen, da sie sich aber nicht mehr an das einmal vereinbarte Programm halten,
müssten sie eigentlich beseitigt werden. Das geschieht allerdings nicht mit der
gebotenen Konsequenz, weil sich die Krebszellen unter den Schutz der
regulatorischen T-Zellen stellen, die im Tumor überproportional häufig
vertreten sind. Bei Krebs müssen die regulatorischen T-Zellen also geschwächt
werden, damit das Immunsystem nicht länger über die wahre Natur der Tumorzellen
getäuscht wird und gegen die Krebszellen vorgehen kann.
Der Dämpfer könnte darin bestehen, dass die Zahl
der regulatorischen T-Zellen im Tumor reduziert oder deren Wirkung unterbunden
wird. Dabei sollte allerdings möglichst spezifisch und auf den Tumor bezogen
vorgegangen werden, da die regulatorischen T-Zellen auch an anderer Stelle im
Körper gebraucht werden. „Geschwächt werden sollten sie eigentlich nur im
Tumor, nicht im ganzen Körper“, erklärt Thomas Boehm „Sakaguchi versucht daher,
die im Tumor vorhandenen regulatorischen T-Zellen in konventionelle T-Zellen
umzuwandeln, die sich dann am Angriff auf die Tumorzellen beteiligen. Wenn die
Strategie aufgeht, würde aus der falsch verstandenen Friedenspflicht eine
Verstärkung des Angriffs werden.“
Derzeit werden verschiedenste Konzepte zur
Behandlung von Autoimmunerkrankungen und Krebs geprüft, die sich allerdings
noch in einer frühen Phase der klinischen Entwicklung befinden. Bis zu einer
breiten therapeutischen Anwendung ist es noch ein weiter Weg.
Kurzbiographie Professor Dr.
Shimon Sakaguchi
Professor Shimon Sakaguchi, MD
(69) ist Arzt. Er studierte Medizin an der Kyoto Universität in Japan,
wechselte dann als Postdoktorand an die Johns-Hopkins-Universität in Baltimore
und danach an die Stanford Universität in Kalifornien. 1989 wurde er „Assistant
Professor“ am Scripps Research Institute in La Jolla. 1991 kehrte Sakaguchi
nach Japan zurück und forschte zunächst am „Tokyo Metropolitan Institute of
Gerontology“. Später am „Institute for Frontier Medical Sciences“ der Kyoto
Universität, dessen Direktor er zeitweilig war. Seit 2011 arbeitet er an der
Osaka Universität. 2012 wurde er Foreign Member der amerikanischen National
Academy of Sciences und 2017 ernannte ihn die japanische Regierung zur „Person
of Cultural Merit“. Sakaguchi hat bereits viele Auszeichnungen erhalten,
darunter den William B. Coley Award des Cancer Research Institute, den Keio
Medical Science Prize, den Canada Gairdner International Award und den Crafoord
Prize. Im vergangenen Jahr wurde ihm der „Deutsche Immunologie-Preis 2019“
verliehen.
Der Paul Ehrlich- und Ludwig
Darmstaedter-Preis
Der
Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preis wird traditionell an Paul Ehrlichs
Geburtstag, dem 14. März, in der Frankfurter Paulskirche verliehen. Mit ihm
werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geehrt, die sich auf den von
Paul Ehrlich vertretenen Forschungsgebieten besondere Verdienste erworben
haben, insbesondere in der Immunologie, der Krebsforschung, der Hämatologie,
der Mikrobiologie und der Chemotherapie. Finanziert wird der seit 1952
verliehene Preis vom Bundesgesundheitsministerium, dem Verband Forschender
Arzneimittelhersteller e.V. und durch zweckgebundene Spenden folgender
Unternehmen, Stiftungen und Einrichtungen: Christa Verhein Stiftung, Else
Kröner-Fresenius-Stiftung, Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, C.H. Boehringer
Sohn AG & Co. KG, Biotest AG, Hans und Wolfgang Schleussner-Stiftung,
Fresenius SE & Co. KGaA, F. Hoffmann-LaRoche Ltd., Grünenthal Group,
Janssen-Cilag GmbH, Merck KGaA, Bayer AG, Holtzbrinck Publishing Group, AbbVie
Deutschland GmbH & Co. KG, die Baden-Württembergische Bank, B. Metzler
seel. Sohn & Co. und die Goethe-Universität. Die Preisträger werden vom
Stiftungsrat der Paul Ehrlich-Stiftung ausgewählt. Eine Liste der
Stiftungsratsmitglieder ist auf der Internetseite der Paul Ehrlich-Stiftung
hinterlegt.
Die
Paul Ehrlich-Stiftung
Die
Paul Ehrlich-Stiftung ist eine rechtlich unselbstständige Stiftung, die
treuhänderisch von der Vereinigung von Freunden und Förderern der
Goethe-Universität verwaltet wird. Ehrenpräsidentin der 1929 von Hedwig Ehrlich
eingerichteten Stiftung ist Professorin Dr. Katja Becker, Präsidentin der
Deutschen Forschungsgemeinschaft, die auch die gewählten Mitglieder des
Stiftungsrates und des Kuratoriums beruft. Vorsitzender des Stiftungsrates der
Paul Ehrlich-Stiftung ist Professor Dr. Thomas Boehm, Direktor am
Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg, Vorsitzender
des Kuratoriums ist Professor Dr. Jochen Maas, Geschäftsführer Forschung &
Entwicklung, Sanofi-Aventis Deutschland GmbH. Prof. Dr. Wilhelm Bender ist in
seiner Funktion als Vorsitzender der Vereinigung von Freunden und Förderern der
Goethe-Universität zugleich Mitglied des Stiftungsrates der Paul
Ehrlich-Stiftung. Die Präsidentin der Goethe-Universität ist in dieser Funktion
zugleich Mitglied des Kuratoriums.
Weitere
Informationen
Sämtliche
Unterlagen der Pressemappe und ein Foto des Preisträgers sind unter www.paul-ehrlich-stiftung.de zur Verwendung hinterlegt. Der Abdruck ist kostenfrei.
Den ausführlichen Lebenslauf, ausgewählte Veröffentlichungen und die
Publikationsliste erhalten Sie von Dr. Hildegard Kaulen, Telefon: +49 (0)
6122/52718, Email: h.k@kaulen-wissenschaft.de